Ein Text zum Nach-Denken

Basslümmel

Ein Text zum Nach-Denken

Beitragvon Basslümmel » Mi 5. Jun 2013, 16:05

Menschen, Tiere und Pflanzen erscheinen und verschwinden – ein jedes Lebewesen ist in seinem
Rhythmus ein Ereignis zwischen den Polen Leben und Tod. Wenn wir sagen, Rhythmus sei Leben,
wo ist dann sein Tod?

Er ist in den Polen selbst, den ausgeführten Schlägen. Wenn sie erfolgen, sind sie Anfang oder Ende,
Geburt oder Tod eines rhythmischen Ereignisses. Das eigentlich Lebendige daran ist nicht die Aufteilung
einer Zeiteinheit durch Trommelschläge, sondern die Spannungsbeziehung zwischen ihnen.
Es ist nicht Lust oder Unlust, Sommer oder Winter, schwarz oder weiß allein, sondern das Kraftfeld
zwischen den Polen, welches sich wie die Energie eines Blitzes zwischen zwei verschieden geladenen
Spannungsträgern zeigt. Pole, Extreme, Ideen, Impulse werden durch die in ihnen stehenden Gegensätzlichkeiten zu einem lebendigen Wirkungsfeld. Wörter werden durch ihren Bezug zu anderen
lebendig, eine Bewegung durch eine fixe Umgebung sichtbar und Töne oder Schläge durch ihre Pausen bedeutsam.

Das Gegenüberstehen von etwas Lebendigem mit etwas Totem, von Bewegung und starrer
Umgebung, von Ton und Stille ergibt erst das Ganze. Aus Angst vor allem Totem verlieren wir oft diese
Ganzheit aus den Augen. Sie ist mehr als die Summe ihrer Teile, und gerade dieses „mehr“ ist Leben.
Solches ganzheitliche Leben hat keine lineare, sondern eher eine kreisförmige Zeitgestalt. Wer
z.B. ganz im Tanz oder im Rhythmus drin ist, kann die normalerweise zuverlässige Vorstellung, wie
viel Zeit von einem Ereignis zum anderen vergeht, völlig verlieren ...

Solche (Rhythmus-) Erlebnisse sind Geschenke einer Zeit und einer Umgebung, wo jeder des
anderen Zeit- und Raumdieb geworden ist. Wer nicht schnell genug ist, verliert in einer Leistungsgesellschaft
Bedeutung, und wer nicht kämpft, hat darin keinen Platz. Stress ist heute zwar ein bedauerter,
aber akzeptierte zustand. Dabei steckt in diesem Kürzel „Stress“ unter anderem, dass Hetze die
Vergewaltigung des Atems ist, dass Konkurrenz die Zerstörung der Bewegungsfreiheit des Anderen
ist und dass Konsum die Sucht derer ist, die nichts mehr geben können. So gesehen ist Stress ein
rhythmusloser Zustand, dem polarer Austausch und ökonomische Ganzheit fehlt. Ich meine, dass die
westliche Industrie- und Zivilisationsgesellschaft so viele Störungen im Zusammenhang mit rhythmischem
Erleben aufweist und einen derart taktlosen Umgang mit dem Körper und der Natur pflegt, weil
sie ihre Kinder bis in die letzte Ader darauf hin erzieht, andere zu übertreffen. Eine bekannte Schwierigkeit
im rhythmischen Zusammenspiel in Gruppen besteht darin, dass der Grundimpuls immer
schneller wird, dass man sich gegenseitig übertreffen will und dadurch
antreibt.

Denken wir einmal allein an den Stress, welches das Ohr ertragen muss: die undynamischen
Rhythmen, die täglich durch Motorengeräusche vermittelt werden, die leblose Metrik digitaler Computergeräte
und ihrer Ab-Fall-Produkte in der Musikindustrie, die programmierte Discomusik und ihre
Überfütterung auf dem CD-, Radio und Filmmarkt, die Dauerberieselung an vielen Arbeitsplätzen, der
Dauerlärm des Verkehrs um zahlreiche Wohnungen herum usw. Viele Ohren bekommen im Schlaf
(manche auch dann nicht) keine ruhigen, stillen oder leeren Zeiten mehr. Da sie sich nicht verschließen
können, müssen sie verdrängen, sich daran gewöhnen und werden unempfindlich, ja unempfänglich
für die wichtigen, vielleicht lebenswichtigen Rhythmen, Klänge, Melodien, die über das Ohr täglich
auf uns treffen. Es muss also einen Weg geben, gegen diesen speziellen Verlust anzugehen, die lebendigen
Hörquellen zurückzuerobern, unsere eigene, gerade jetzt in uns sitzende Musik zu entdecken.
(aus: Fritz Hegi, Improvisation und Musiktherapie, Paderborn 1986, S.38ff)

Tom

Re: Ein Text zum Nach-Denken

Beitragvon Tom » Mi 5. Jun 2013, 16:20

du kriegst n einser mündlich, aber nen Eintrag in's Klassenbuch wegen Störung der Postmoderne (hättstes gelassen, wär alles gut).

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Re: Ein Text zum Nach-Denken

Beitragvon Spanish Tony » Mi 5. Jun 2013, 16:36

Danke für diesen bemerkenswerten Text!
ST

Tom

Re: Ein Text zum Nach-Denken

Beitragvon Tom » Mi 5. Jun 2013, 17:09

jetzt kommst du und machst hier auf betroffen.
einfach homosexuell.

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Re: Ein Text zum Nach-Denken

Beitragvon Spanish Tony » Mi 5. Jun 2013, 17:29

Du kennst doch diesen empfindsamen Teil von mir

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Re: Ein Text zum Nach-Denken

Beitragvon Bassfuss » Mi 5. Jun 2013, 17:45

...ich finde, daß der Text viel Wahrheit beinhaltet, andererseits aber auch das Schlaraffenland einfordert, in dem alles im Einklang mit dem anderen und sich selbst ist. Das ist zwar ein erstrebenswerter Zustand, jedoch vermutlich für 99,9% der Menschen unerreichbar. Dann zählt, sich diesem Zustand zumindestens teilweise anzunähern, aber auch soweit realistisch zu sein, die Grenzen zu kennen, die man nun erweitern kann oder eben als Grenze hinnimmt. Jeder, wie er es schafft, ohne daß dies eine Wertung sein soll. Unglaublich weit weg momentan, dieser Zustand, Lichtjahre geradezu.

Und man darf auch nicht vergessen, daß dies eine Meinung ist, die keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit hat, genausowenig wie meine.

Um diesem Zustand nahe zu kommen, müssen wir gesellschaftlich vermutlich so ziemlich alles ändern, was momentan gegeben ist, befürchte ich leider.

Tom

Re: Ein Text zum Nach-Denken

Beitragvon Tom » Mi 5. Jun 2013, 17:54

Spanish Tony hat geschrieben:Du kennst doch diesen empfindsamen Teil von mir

Ja. Sorry.

buttrock

Re: Ein Text zum Nach-Denken

Beitragvon buttrock » Mi 5. Jun 2013, 19:19

Bissi dick aufgetragen imho

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Re: Ein Text zum Nach-Denken

Beitragvon Bassfuss » Do 6. Jun 2013, 09:28

buttrock hat geschrieben:Bissi dick aufgetragen imho



...stimmt.

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Re: Ein Text zum Nach-Denken

Beitragvon Reinhardt » Do 6. Jun 2013, 10:06

Heute Nacht kreiste eine Stunde lang ein Polizeihubschrauber über unserem Haus.
Vielleicht kam es deshalb auch zu meinem Tapping-Traum.

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Re: Ein Text zum Nach-Denken

Beitragvon Reinhardt » Do 6. Jun 2013, 10:09

Bassfuss hat geschrieben:...ich finde, daß der Text viel Wahrheit beinhaltet, andererseits aber auch das Schlaraffenland einfordert, in dem alles im Einklang mit dem anderen und sich selbst ist. Das ist zwar ein erstrebenswerter Zustand, jedoch vermutlich für 99,9% der Menschen unerreichbar. Dann zählt, sich diesem Zustand zumindestens teilweise anzunähern, aber auch soweit realistisch zu sein, die Grenzen zu kennen, die man nun erweitern kann oder eben als Grenze hinnimmt. Jeder, wie er es schafft, ohne daß dies eine Wertung sein soll. Unglaublich weit weg momentan, dieser Zustand, Lichtjahre geradezu.

Und man darf auch nicht vergessen, daß dies eine Meinung ist, die keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit hat, genausowenig wie meine.

Um diesem Zustand nahe zu kommen, müssen wir gesellschaftlich vermutlich so ziemlich alles ändern, was momentan gegeben ist, befürchte ich leider.

ich würde im Gegenteil sagen, dass die Anpassung an die Jahreszeiten und die Rhythmik der Natur erst Grundvoraussetzung für prähistorische Zivilisation war. Nur so ließen sich arbeitsteilige Gesellschaftsformen organisieren, Sammeln und Jagen, Ackerbau und Viehzucht, Hausbau und Brandrodung, Krieg und Fortpflanzung.

Basslümmel

Re: Ein Text zum Nach-Denken

Beitragvon Basslümmel » Do 6. Jun 2013, 10:11

Bassfuss hat geschrieben:
buttrock hat geschrieben:Bissi dick aufgetragen imho



...stimmt.



Selbstverständlich ist dem so, weil wir uns in diesem Forum mit einer primitiven Kommunikation auseinandersetzen. Einschliesslich meiner Wenigkeit. :-)
Zuletzt geändert von Basslümmel am Do 6. Jun 2013, 10:17, insgesamt 1-mal geändert.

Basslümmel

Re: Ein Text zum Nach-Denken

Beitragvon Basslümmel » Do 6. Jun 2013, 10:16

Multitone hat geschrieben:Heute Nacht kreiste eine Stunde lang ein Polizeihubschrauber über unserem Haus.
Vielleicht kam es deshalb auch zu meinem Tapping-Traum.



Was Du/wir heute in 5 Minuten an Geräuschen zu hören bekommen, haben die Menschen vor 2000 Jahren in ihrem ganzen Leben nicht zu hören bekommen.

Al Burky

Re: Ein Text zum Nach-Denken

Beitragvon Al Burky » Do 6. Jun 2013, 11:09

Ja, vor allem in Büttenwarder..... :mrgreen:

Nicknack

Re: Ein Text zum Nach-Denken

Beitragvon Nicknack » Do 6. Jun 2013, 15:24

@Lümmel
Schönes Ding, danke dafür.

buttrock hat geschrieben:Bissi dick aufgetragen imho

Nun ja, eben nicht für ein "beinhartes Rock'n'Roller"-Forum geschrieben.
Als Anwohner einer der verkehrsreichsten innerstädtischen Straßen Europas und als aufmerksamer Beobachter meiner selbst sowie meiner Umwelt kann ich nur sagen:
Es spricht 'ne Menge dafür, dass es einfach so ist.


@Al Burkhy
Denn sei mal froh, dass Du eben meine Stratocaster-Exerzitien über Pro Reverb und Marshall Studio 15 nicht miterlebt hast.
Boooooooooaaaaaaaaaaaaaaaah, war das geil und laut.

:up:
Es ist eine gute Sache, mich gitarristisch weiterhin jedweder Amps oberhalb von 70 Watt zu enthalten.
Ich weiss auch gar nicht, was ich mit mehr Watt sollte.
Sattes Body-feel geht bereits ab 15 Watt nominell (ok, so wie ich den Amp einstelle, sind es dann etwa 27 Watt effektiv) - selbst mit dem "miesen Vintage 30" und dem "viel zu kleinen" Gehäuse.

:guitar4:

Nick

Al Burky

Re: Ein Text zum Nach-Denken

Beitragvon Al Burky » Do 6. Jun 2013, 15:54

"@Al Burkhy
Denn sei mal froh, dass Du eben meine Stratocaster-Exerzitien über Pro Reverb und Marshall Studio 15 nicht miterlebt hast.
Boooooooooaaaaaaaaaaaaaaaah, war das geil und laut."

Liebelein, wie lange kennen wir uns nochmal? :flower:

Josef K

Re: Ein Text zum Nach-Denken

Beitragvon Josef K » Do 6. Jun 2013, 16:10

Basslümmel hat geschrieben:Was Du/wir heute in 5 Minuten an Geräuschen zu hören bekommen, haben die Menschen vor 2000 Jahren in ihrem ganzen Leben nicht zu hören bekommen.


Wenn im Wald ein Baum umstürzt, aber niemand da ist, um dies zu hören, macht der umstürzende Baum dann ein Geräusch?

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Re: Ein Text zum Nach-Denken

Beitragvon Bassfuss » Do 6. Jun 2013, 17:15

Josef K hat geschrieben:Wenn im Wald ein Baum umstürzt, aber niemand da ist, um dies zu hören, macht der umstürzende Baum dann ein Geräusch?



...nein, natürlich nicht :mrgreen: ;-)

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Re: Ein Text zum Nach-Denken

Beitragvon Reinhardt » Do 6. Jun 2013, 17:18

Josef K hat geschrieben:
Basslümmel hat geschrieben:Was Du/wir heute in 5 Minuten an Geräuschen zu hören bekommen, haben die Menschen vor 2000 Jahren in ihrem ganzen Leben nicht zu hören bekommen.


Wenn im Wald ein Baum umstürzt, aber niemand da ist, um dies zu hören, macht der umstürzende Baum dann ein Geräusch?

Zu viel "Dark Star" geguckt?

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Re: Ein Text zum Nach-Denken

Beitragvon Bassfuss » Do 6. Jun 2013, 17:20

Multitone hat geschrieben:ich würde im Gegenteil sagen, dass die Anpassung an die Jahreszeiten und die Rhythmik der Natur erst Grundvoraussetzung für prähistorische Zivilisation war. Nur so ließen sich arbeitsteilige Gesellschaftsformen organisieren, Sammeln und Jagen, Ackerbau und Viehzucht, Hausbau und Brandrodung, Krieg und Fortpflanzung.


...auch das stimmt. Bis der Mensch es übertrieben hat. Und jetzt Schwierigkeiten hat, diesen Rhythmus wiederzufinden, wenn er sich denn mal nicht sogar den Weg verbaut hat. Wieder im völligen Einklang, im Rhythmus der Natur zu leben oder dem nahe zu kommen, wäre ja durchaus ein schönes Ziel. Aber der Mensch hat vermutlich den Zeitpunkt verpaßt, es wieder besser zu machen. Hauen und Stechen allüberall.


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