Ich sehs ganz ähnlich wie Carlo, schwierig in Worten darzustellen.
Ich hangle mich lieber mal an deinen konkreten Fragen entlang:
Beherrscht ihr jede Menge Standards?
Ja und Nein. Und von "Beherrschen" spricht niemand, der sich damit tiefer beschäftigt. Man betritt eher ein offenes Feld.
Ich halte es eher für wichtig zum einen Standards zu lernen, die man mag (schöne oder interessante Melodien)
und zum anderen durch erfahrene Jazzmusiker einem Standards sagen zu lassen, die bestimmte Akkordverbindungen,
die sich zum Teil auch in vielen anderen Standards wiederholen, exemplarisch vorgeben.
Aus meiner Sicht wäre das z.B. (unvollständige Liste!!):
erweiterte Jazz-Bluesformen (Ornithology, Au Privave, Blue Monk, Straight no Chaser etc.)
"Rhythm Changes" (also Standards, die auf I Got Rhythm basieren - Anthropology, Oleo, Meet the Flintstones, Straighten up and Fly right etc.)
und dann einfach Be-Bop und Hardbop Literatur:Autumn Leaves (Quintfallsequenz in Moll mit den dazugeh. Kadenzen)
All the things you are (Quintfallsequenz mit Modulation)
Solar (ähnlich wie oben)
All of me (enthält fast alle Moll und Durkadenzen)
How high the moon (ähnlich)
Donna Lee
There will never be another you
Well you needn't
a night in Tunesia
Take the A Train
(...)
sehr schöne Stücke mit großem Lernanteil sind IMHO:in a sentimental mood
Speak low (!!)
Skylark
On Green Dolphin Street
The Days of wine and roses
Stella by Starlight
Joy Spring
Nardis
Naima
Dolphin Dance
Infant eyes
...
dann die Bossa Abteilung (Latein muss sein)Das Girl vom Unternehmer
Wave
Blue Bossa
One note Samba
my little boat
my little suede shoes
if you never come to me
summer samba
Waters of March
Agua de beber
Corcovado
(...)
Die Joe Henderson DingerInner Urge
Recordame
Isotope
(...)
Etwas "moderner":the chicken
this masquerade
Watermelon man
(...)
- Habt ihr beim Improvisieren immer die Akkordfolgen vor dem inneren Auge?
Nein. Nur wenn ich den Titel nicht kenne, schau ich auf die Noten, Das versuche ich zu vermeiden, weil es mir keinen Spaß macht.
- Fliegt ihr bei langen Akkordfolgen auch mal raus? Falls ja, was dann?
Sehr, sehr selten. Wenn ja: Ohren auf.
Ausser bei Giant steps z.B.. Aber das spiel ich nicht.
was bedeutet: wenn du einen Standard nicht auswendig kennst, solltest du ihn nicht spielen.
Allerdings kommt man als Anfänger nicht drum rum, auch mal etwas nicht so gut verinnerlicht zu haben und dann halt mal in die
Tonne zu langen. Was solls. Irgendwie muss man ja mal anfangen.
- Habt ihr auf einer Session das Realbook dabei?
Ja, schlag es aber nur auf, wenn ich einen Standard nicht kenne.
- Wie geht man zum Lernen die Sache an? - Wie sieht das in der Praxis so aus?
Du lernst erstmal die Themen. Dann die Akkorde.
Such dir nicht die schwersten Themen am Anfang aus (z.B. Donna Lee) sondern coole, einfache Themen
(Blue Monk, the girl from Ipanema, summer samba)
Dann die Parker Dinger (Antro- Orni- usw.) Hier lernt man schon viel über die Eigenarten dieser Ästhetik.
Dann die Akkorde.....
Dann übst du die Standards in der Reihenfolge ihrer Schwierigkeit. Du musst die Kadenzen und die Akkordverbindungen ausspielen lernen. Ideal wäre, daß man die Changes ohne Begleitinstrumente in deiner Impro "hören" kann.
Sich mit all dieser klassischen Literatur zu beschäftigen (nicht sie zu beherrschen) ist die Grundschule für einen improvisierenden Jazzmusiker. Das sind die Hausaufgaben.
Und wenn jetzt das "Free" Argument kommt: Coltrane hat wie wahnsinnig geübt und ist dann letztlich dort gelandet - ich glaube aber eher, weil er ein sehr spiritueller Mensch war.
Ornette Coleman hat überhaupt nicht geübt um dort schon zu sein.
Muss jeder für sich schauen, wo er da grade steht.
Nimm dir einen Lehrer wäre meine Empfehlung.