der größte Neuerer des 20. Jh.

buttrock

Re: der größte Neuerer des 20. Jh.

Beitragvon buttrock » Di 3. Mai 2011, 10:40

Matt 66 hat geschrieben:
buttrock hat geschrieben:Ich bin nicht der Meinung das ein 14jaehriger erstmal 4 Jahre ordentlich uebt und lernt bis er "raus" darf. Die Leute sollen Bands gruenden und Alben machen.


Hmmm... Mit dem Satz habe ich so meine Probleme, wenn ich ehrlich bin. Wobei jetzt die Frage wäre, was Du mit "raus dürfen" genau meinst. Dass junge Musiker schon früh beginnen in Bands zu spielen und Erfahrungen auf der Bühne und im Studio machen, kann ich nur unterstützen. Nur dann sollte das auch entsprechend "gekennzeichnet" sein bzw. in entsprechendem Rahmen ablaufen (Schülerkonzerte im Jugendzentrum usw.).
Wenn ich aber beobachte, wieviele "erwachsene" Bands meinen ihre Umwelt mit ihrer Musik beglücken zu müssen, denke ich eher, dass der Welt viel Leid erspart würde, wenn diese Bands (noch) nicht rausgelassen worden wären.
Es ist ein Phänomen der heutigen Zeit, dass jeder dahergelaufene Spinner meint, er könne mit dem PC und ein bisschen Marketing als Musiker die Welt erobern. Sendungen wie DSDS, die vergleichsweise günstigen Möglichkeiten des Homerecording, all das vermittelt den Eindruck: das kann ich auch.

Bitte nicht falsch verstehen. Jeder Mensch soll privat tun, was ihn glücklich macht. Aber in dem Moment, wo es in die Öffentlichkeit geht, fände ich eine gewisse "Kontrollinstanz" recht sinnvoll. Warum war denn früher alles besser? Weil es da noch A&R´s gab, die Ohren hatten. Heute kann jeder Hanswurst via Internet sein Ding durchziehen. Das hat in mancher Hinsicht sicher Vorteile, aber eben auch den Nachteil, dass wirklich jeder Scheiß an die Oberfläche gespült wird und - viel schlimmer - der Markt einfach total unübersichtlich und v.a. auch beliebig geworden ist.

Kunst kommt immer noch von Können, erst dann von Müssen.

Ihr dürft mich ab sofort konservativ nennen...



Freiheit fuehrt immer auch zu Unuebersichtlichkeit. Ein Preis den ich allzugerne bezahle. Heute brauchts keine A&Rs mehr, wenn man bereit ist Blogs, Fanzines usw zu lesen. Man muss mehr selbst filtern.

tortitch

Re: der größte Neuerer des 20. Jh.

Beitragvon tortitch » Di 3. Mai 2011, 11:58

Tom hat geschrieben:Natur gibt keine Regeln vor. Wir Menschen brauchen die Illusion eines Regelwerkes (Religion, Physik, Psychologie, Hirnforschung, Musikerforen etc.) , um uns in der Welt zurecht zu finden.
.


Dass du ein Vertreter dieser Position (Position B) bist, ist, glaube ich, deutlich geworden. Wenn man Regeln als sprachliche Gebilde auffasst, in denen Modalverben (sollen, müssen, dürfen ...) vorkommen, dann finden sich Regeln sicher nicht einfach in der Natur, sondern sind Menschenwerk (vorbehaltlich des religiösen Glaubens an Gottes Wort). Am Rande möchte ich noch anmerken, dass es aber unterschiedliche Regeln gibt, z.B. ästhetische, ethische, naturwissenschaftliche (auch Naturgesetze genannt). Ethische Regeln kann ich ggf. ignorieren und jemanden böswillig belügen. Ästhetische Regeln kann ich wohl auch ignorieren. Etwas problematischer ist es da mit den "Naturgesetzen". Wenn ich etwa ignorieren möchte, dass physikalische Körper mittels der Gravitationskraft aufeinander wirken, kann das für mich recht schmerzhafte oder sogar tödliche Konsequenzen haben. Was z.B. die ethischen Regeln betrifft, möchte ich die nicht als "Illusion" bezeichnet wissen. Auch wenn sie Menschenwerk sein sollten. Vielmehr hoffe ich inständig, dass wenigstens die meisten Menschen die ganz reale Gültigkeit ethischer Regeln weiterhin akzeptieren. Aber wie gesagt, das nur als Randnotiz.
Jetzt zur Hauptsache, zu den ästhetischen Regeln. Damit ich weiß, wovon eigentlich die Rede ist, brauche ich immer Beispiele. Ich nehme als Beispiel mal diese Regel: "Beende einen Song immer auf der Tonika." Gegen diese Regel kann man sicher verstoßen, man kann auf der Dominante enden oder ein Fadeout machen. Soweit trivial. Ich frage mich aber, ob die Regel tatsächlich gegebene Form haben muss oder nicht auch so lauten kann: "Wenn du einen harmonisch auflösenden Schlusseffekt haben willst, dann kannst du deinen Song auf der Tonika enden lassen." In dem Fall wäre es weniger eine (normative) Regel, als eine Art Gebrauchsanleitung. Solche "Kochrezepte" scheinen mir doch eher unbedenklich. Ernster wird es, wenn es sich tatsächlich um normative Regeln handelt, deren Restriktionskraft mit Sanktionsandrohung unterfüttert wird. Hier kommt der von Tom häufiger angeführte Begriff der Macht ins Spiel. Denn ohne Macht ist eine Sanktionsandrohung nicht glaubhaft. Wer hat also diese Macht? Wer ist die sanktionierende Autorität? Und die Rede ist ja vom "Subsystem Kultur" (um mit Luhmann zu reden), von der Musikbranche etwa. Zu anderen Zeiten mögen Gott und Kirche diese Autoriäten gewesen sein. Wenn z.B. die Regel galt: "Vermeide den Tritonus!" Und heute?
Hier würde ich Toms HInweis auf den Kommerzialisierungsmechanismus aufgreifen. Grob vereinfacht stelle ich mir das etwa so vor: Der Produzent zur Band: "Ey, hört bloß auf mit diesem Fünfviertel-Scheiß, das will doch keiner hören, ist doch viel zu kompliziert. Da muss was Einfaches her." (Analyse: der Produzent weiß, was "man" hören möchte. Er folgert daraus: dann muss man das auch so machen! Die Norm "Vor allem müssen die Verkaufszahlen stimmen" setzt er ohnehin schon unhinterfragt voraus. Die Sanktionsandrohung: "Ihr macht, was ich sage, sonst fliegt ihr raus."). Nach diesem Mechanismus scheinen mir schon seit vielen Jahren die privaten Radiosender zu funktionieren. Man biedert sich einem vermeintlichen Publikumsgeschmack an und nimmt hilflos die Achseln zuckend jede Verflachung und Monokulturisierung in Kauf. Verantwortlich ist ja letzten Endes die Masse, das Publikum, der Konsument. IN dieser Argumentation ist der Kunde nicht nur König, der Konsument hat funktional die Stelle von Gott eingenommen.
So, und damit lande ich (zu meiner eigenen Überraschung) bei dem von Butt vorgebrachten Credo.

Gruß
T.

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Großmutter
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Re: der größte Neuerer des 20. Jh.

Beitragvon Großmutter » Di 3. Mai 2011, 12:23

>>>IN dieser Argumentation ist der Kunde nicht nur König, der Konsument hat funktional die Stelle von Gott eingenommen<<<

...was ein ziemlich düsteres Fazit ist, da ca. 70 (eher 80) Prozent der "Kunden" und "Konsumenten" Trottel sind, die von nichts, aber auch gar nichts eine Ahnung haben - jedenfalls nicht von Musik....bin da leider Kulturpessimist...

tortitch

Re: der größte Neuerer des 20. Jh.

Beitragvon tortitch » Di 3. Mai 2011, 12:29

Matt 66 hat geschrieben:Wenn ich aber beobachte, wieviele "erwachsene" Bands meinen ihre Umwelt mit ihrer Musik beglücken zu müssen, denke ich eher, dass der Welt viel Leid erspart würde, wenn diese Bands (noch) nicht rausgelassen worden wären.
Es ist ein Phänomen der heutigen Zeit, dass jeder dahergelaufene Spinner meint, er könne mit dem PC und ein bisschen Marketing als Musiker die Welt erobern. Sendungen wie DSDS, die vergleichsweise günstigen Möglichkeiten des Homerecording, all das vermittelt den Eindruck: das kann ich auch.

Bitte nicht falsch verstehen. Jeder Mensch soll privat tun, was ihn glücklich macht. Aber in dem Moment, wo es in die Öffentlichkeit geht, fände ich eine gewisse "Kontrollinstanz" recht sinnvoll. Warum war denn früher alles besser? Weil es da noch A&R´s gab, die Ohren hatten. Heute kann jeder Hanswurst via Internet sein Ding durchziehen. Das hat in mancher Hinsicht sicher Vorteile, aber eben auch den Nachteil, dass wirklich jeder Scheiß an die Oberfläche gespült wird und - viel schlimmer - der Markt einfach total unübersichtlich und v.a. auch beliebig geworden ist.

Kunst kommt immer noch von Können, erst dann von Müssen.

Ihr dürft mich ab sofort konservativ nennen...


Ach, obwohl ich mich ja gerade in Butts Ecke hineinargumentiert habe, sprichst du mir irgendwie aus der Seele. Was mich besonders aufregt, ist die Bereitschaft zur hemmungslosen Selbstverdummung, wenn sich Menschen hinsetzen und mit verklärter Kunstkenner und -genießermiene offenkundige Scheiße rezipieren. Hape Kerkelings Hurz-Vortrag ist dazu eigentlich der ultimative Kommentar. Da gibt es doch diese Untersuchung von dem Soziologen Pierre Bourdieu über die "feinen Unterschiede". Ist schon ein paar Jahre her, aber ich glaube die Quintessenz lautet etwa so. Soziale Differenzen werden von den Gruppen gern durch das Verhalten im Sektor Kultur markiert. Die ästhetischen Präferenzen des gehobenen Bürgertums sehen anders aus als die z.B. des Prekariats. Möchte man für sich einen Distinktionsgewinn herausschlagen (seine Erlesenheit demonstrieren), dann hat es keinen Sinn, sich dem "Massengeschmack" anzuschließen. Distinktion (im Sinne von nach oben heraushebender Unterscheidung) verspricht nur das, was sich abseits vom "Mainstream" bewegt. Damit ist dann der Hurz-scheiße Tür und Tor geöffnet. Ist ein bisschen so wie mit des Kaisers neuen Kleidern.
Ach ja, und um das nicht zu vergessen: Du Konservativer, du!

Gruß
T.

Tom

Re: der größte Neuerer des 20. Jh.

Beitragvon Tom » Di 3. Mai 2011, 12:30

tortitch hat geschrieben:(...) dass es aber unterschiedliche Regeln gibt, z.B. ästhetische, ethische, naturwissenschaftliche (auch Naturgesetze genannt)

Davon rede ich. Ist mir bekannt.

Was z.B. die ethischen Regeln betrifft, möchte ich die nicht als "Illusion" bezeichnet wissen.

Ich fühle mich missverstanden. Meine Freiheit hört für mich da auf, wo die des anderen beginnt. Die Illusion besteht nicht in der Ethik der Regeln, sondern das es nur einen ethischen Regelkatalog gibt, der z.B. Machtstrukturen stützen soll. Ich selbst bin Anhänger einer friedlichen, wertschätzenden und liebevollen Vorstellung des Zusammenlebens und geniesse diese Illusion bis zum nächsten Wutausbruch.

Zu den ästhetischen Regeln:
Ernster wird es, wenn es sich tatsächlich um normative Regeln handelt, deren Restriktionskraft mit Sanktionsandrohung unterfüttert wird.

So ist es. Find ich auch. :dr01:
(...) ohne Macht ist eine Sanktionsandrohung nicht glaubhaft. Wer hat also diese Macht? Wer ist die sanktionierende Autorität?

Wie in einem Panoptikum übernehmen wir selbst schliesslich die Autorität und verinnerlichen sie, gegen Teile von uns. Tag für Tag. Wir alle haben eine lange Geschichte dazu fürchte ich.
Das ist die Selbstlimitierung (diese Gedanken hab ich im Workshop auf der anderen Seite etwas ausgeführt). Das ist der Punkt, der psychologisierende Moment. Für mich. (Off Topic: Oft entstehen doch seelische Erkrankungen so. Nicht nur ich habe Leute daran sterben sehen.)

Es kann wunderbar, erfüllend und alles sein, auf der Tonika zu enden. Wir alle haben das tief in uns drin. Ist doch kein Problem, wie du schon sagst - seh ich auch so.
Es kann ebenso wunderbar sein, die Spannung innerhalb der Funktionsharmonik auf die Spitze zu treiben und diese praktisch ad absurdum zu führen (Wobei man allerdings immer noch auf die Funktionsharmonik bezogen ist) - Wagner bis Reger oder teilweise im Jazz etc.

Es kann auch wunderbar sein, Funktionsharmonik grundsätzlich von Anfang an zu verlassen und z.B. die Dissonanz zu erforschen und aus ihr ästhetischen Genuss zu ziehen oder eigene Verhältnisse von Spannung und Entspannung zu schaffen (z.B. Skrijabin)

Es ist sogar alles gleichberechtigt möglich. Hab ich zumindest die Erfahrung gemacht.


Ein guter Produzent hört das Potential und hilft dabei, dieses liebevoll zu Tage zu fördern.

Wir sehen der kommerzialisierten Popkultur gerade beim Sterben zu. Sie wird nicht ganz weg gehen und wahrscheinlich wird sich bald "wieder was im Osten rühren" ;)

Im Moment ist die Musik wahrscheinlich live am sichersten . . . .

Tom

Re: der größte Neuerer des 20. Jh.

Beitragvon Tom » Di 3. Mai 2011, 12:32

tortitch hat geschrieben:Möchte man für sich einen Distinktionsgewinn herausschlagen (seine Erlesenheit demonstrieren), dann hat es keinen Sinn, sich dem "Massengeschmack" anzuschließen. Distinktion (im Sinne von nach oben heraushebender Unterscheidung) verspricht nur das, was sich abseits vom "Mainstream" bewegt.


Kai ! Kai !!! Das musst du lesen!!!!

tortitch

Re: der größte Neuerer des 20. Jh.

Beitragvon tortitch » Di 3. Mai 2011, 12:47

Großmutter hat geschrieben:>>>IN dieser Argumentation ist der Kunde nicht nur König, der Konsument hat funktional die Stelle von Gott eingenommen<<<

...was ein ziemlich düsteres Fazit ist, da ca. 70 (eher 80) Prozent der "Kunden" und "Konsumenten" Trottel sind, die von nichts, aber auch gar nichts eine Ahnung haben - jedenfalls nicht von Musik....bin da leider Kulturpessimist...


Na ja, das ist aber nicht meine Argumentation, sondern nur eine, die ich rekonstruiert habe. Meiner Meinung nach ist das Ideologie. Gott ist der Mammon, und Religion ist die Absahner-Mentalität, der Glaube daran, wie man schnell an Geld kommt ("Hey, guck mal, mit der Masche haben die Erfolg gehabt, dann machen wir jetzt auch schnell die Masche"). Der Konsument wird als zu melkende Herde dumm gehalten und suhlt sich auch noch in seiner Dummheit, kokettiert mit der eigenen Lächerlichkeit (das DSDS-Syndrom, Matt). Kant hatte das ja mal die "selbst verschuldete Unmündigkeit" genannt.

Gruß T.

tortitch

Re: der größte Neuerer des 20. Jh.

Beitragvon tortitch » Di 3. Mai 2011, 12:55

Tom hat geschrieben:Es kann wunderbar, erfüllend und alles sein, auf der Tonika zu enden. Wir alle haben das tief in uns drin. Ist doch kein Problem, wie du schon sagst - seh ich auch so.
Es kann ebenso wunderbar sein, die Spannung innerhalb der Funktionsharmonik auf die Spitze zu treiben und diese praktisch ad absurdum zu führen (Wobei man allerdings immer noch auf die Funktionsharmonik bezogen ist) - Wagner bis Reger oder teilweise im Jazz etc.

Es kann auch wunderbar sein, Funktionsharmonik grundsätzlich von Anfang an zu verlassen und z.B. die Dissonanz zu erforschen und aus ihr ästhetischen Genuss zu ziehen oder eigene Verhältnisse von Spannung und Entspannung zu schaffen (z.B. Skrijabin)

Es ist sogar alles gleichberechtigt möglich. Hab ich zumindest die Erfahrung gemacht.


Ein guter Produzent hört das Potential und hilft dabei, dieses liebevoll zu Tage zu fördern.

Wir sehen der kommerzialisierten Popkultur gerade beim Sterben zu. Sie wird nicht ganz weg gehen und wahrscheinlich wird sich bald "wieder was im Osten rühren" ;)

Im Moment ist die Musik wahrscheinlich live am sichersten . . . .


Mensch, jetzt hör doch mal auf, ich muss arbeiten und kann nicht den ganzen Vormittag rumposten. So, Schluss, von mir kein Wort mehr. Aus, Ende, totales Ignorieren, echt. Ich wende mich jetzt der Pflicht zu (argh, wenn die nur so viel Spaß machen würde, wie über Kunst zu philosophieren!!!)

Al Burky

Re: der größte Neuerer des 20. Jh.

Beitragvon Al Burky » Di 3. Mai 2011, 13:13

Äääh, ist das Kunst oder kann das weg? :tongue:

buttrock

Re: der größte Neuerer des 20. Jh.

Beitragvon buttrock » Di 3. Mai 2011, 13:25

Tom hat geschrieben:
tortitch hat geschrieben:Möchte man für sich einen Distinktionsgewinn herausschlagen (seine Erlesenheit demonstrieren), dann hat es keinen Sinn, sich dem "Massengeschmack" anzuschließen. Distinktion (im Sinne von nach oben heraushebender Unterscheidung) verspricht nur das, was sich abseits vom "Mainstream" bewegt.


Kai ! Kai !!! Das musst du lesen!!!!

Meinst du der das weiss das nicht :dontknow: :mrgreen:

buttrock

Re: der größte Neuerer des 20. Jh.

Beitragvon buttrock » Di 3. Mai 2011, 13:28

tortitch hat geschrieben:
Tom hat geschrieben:Natur gibt keine Regeln vor. Wir Menschen brauchen die Illusion eines Regelwerkes (Religion, Physik, Psychologie, Hirnforschung, Musikerforen etc.) , um uns in der Welt zurecht zu finden.
.


Dass du ein Vertreter dieser Position (Position B) bist, ist, glaube ich, deutlich geworden. Wenn man Regeln als sprachliche Gebilde auffasst, in denen Modalverben (sollen, müssen, dürfen ...) vorkommen, dann finden sich Regeln sicher nicht einfach in der Natur, sondern sind Menschenwerk (vorbehaltlich des religiösen Glaubens an Gottes Wort). Am Rande möchte ich noch anmerken, dass es aber unterschiedliche Regeln gibt, z.B. ästhetische, ethische, naturwissenschaftliche (auch Naturgesetze genannt). Ethische Regeln kann ich ggf. ignorieren und jemanden böswillig belügen. Ästhetische Regeln kann ich wohl auch ignorieren. Etwas problematischer ist es da mit den "Naturgesetzen". Wenn ich etwa ignorieren möchte, dass physikalische Körper mittels der Gravitationskraft aufeinander wirken, kann das für mich recht schmerzhafte oder sogar tödliche Konsequenzen haben. Was z.B. die ethischen Regeln betrifft, möchte ich die nicht als "Illusion" bezeichnet wissen. Auch wenn sie Menschenwerk sein sollten. Vielmehr hoffe ich inständig, dass wenigstens die meisten Menschen die ganz reale Gültigkeit ethischer Regeln weiterhin akzeptieren. Aber wie gesagt, das nur als Randnotiz.
Jetzt zur Hauptsache, zu den ästhetischen Regeln. Damit ich weiß, wovon eigentlich die Rede ist, brauche ich immer Beispiele. Ich nehme als Beispiel mal diese Regel: "Beende einen Song immer auf der Tonika." Gegen diese Regel kann man sicher verstoßen, man kann auf der Dominante enden oder ein Fadeout machen. Soweit trivial. Ich frage mich aber, ob die Regel tatsächlich gegebene Form haben muss oder nicht auch so lauten kann: "Wenn du einen harmonisch auflösenden Schlusseffekt haben willst, dann kannst du deinen Song auf der Tonika enden lassen." In dem Fall wäre es weniger eine (normative) Regel, als eine Art Gebrauchsanleitung. Solche "Kochrezepte" scheinen mir doch eher unbedenklich. Ernster wird es, wenn es sich tatsächlich um normative Regeln handelt, deren Restriktionskraft mit Sanktionsandrohung unterfüttert wird. Hier kommt der von Tom häufiger angeführte Begriff der Macht ins Spiel. Denn ohne Macht ist eine Sanktionsandrohung nicht glaubhaft. Wer hat also diese Macht? Wer ist die sanktionierende Autorität? Und die Rede ist ja vom "Subsystem Kultur" (um mit Luhmann zu reden), von der Musikbranche etwa. Zu anderen Zeiten mögen Gott und Kirche diese Autoriäten gewesen sein. Wenn z.B. die Regel galt: "Vermeide den Tritonus!" Und heute?
Hier würde ich Toms HInweis auf den Kommerzialisierungsmechanismus aufgreifen. Grob vereinfacht stelle ich mir das etwa so vor: Der Produzent zur Band: "Ey, hört bloß auf mit diesem Fünfviertel-Scheiß, das will doch keiner hören, ist doch viel zu kompliziert. Da muss was Einfaches her." (Analyse: der Produzent weiß, was "man" hören möchte. Er folgert daraus: dann muss man das auch so machen! Die Norm "Vor allem müssen die Verkaufszahlen stimmen" setzt er ohnehin schon unhinterfragt voraus. Die Sanktionsandrohung: "Ihr macht, was ich sage, sonst fliegt ihr raus."). Nach diesem Mechanismus scheinen mir schon seit vielen Jahren die privaten Radiosender zu funktionieren. Man biedert sich einem vermeintlichen Publikumsgeschmack an und nimmt hilflos die Achseln zuckend jede Verflachung und Monokulturisierung in Kauf. Verantwortlich ist ja letzten Endes die Masse, das Publikum, der Konsument. IN dieser Argumentation ist der Kunde nicht nur König, der Konsument hat funktional die Stelle von Gott eingenommen.
So, und damit lande ich (zu meiner eigenen Überraschung) bei dem von Butt vorgebrachten Credo.

Gruß
T.


Ja genau.
Das die so gewonnene Freiheit auch in ner gewissen Form misbraucht werden kann, ist hinzunehmen (Stichwort "Hurz"). Ich komm mir hier aber oft so vor, als wollte jemand des Kaisers neue Kleider entlarvt haben und ich nur schulterzuckend: "Ja ich bin nackt, ich weiss das." entgegnen kann.

buttrock

Re: der größte Neuerer des 20. Jh.

Beitragvon buttrock » Di 3. Mai 2011, 13:29

Tom hat geschrieben:
tortitch hat geschrieben:(...) dass es aber unterschiedliche Regeln gibt, z.B. ästhetische, ethische, naturwissenschaftliche (auch Naturgesetze genannt)

Davon rede ich. Ist mir bekannt.

Was z.B. die ethischen Regeln betrifft, möchte ich die nicht als "Illusion" bezeichnet wissen.

Ich fühle mich missverstanden. Meine Freiheit hört für mich da auf, wo die des anderen beginnt. Die Illusion besteht nicht in der Ethik der Regeln, sondern das es nur einen ethischen Regelkatalog gibt, der z.B. Machtstrukturen stützen soll. Ich selbst bin Anhänger einer friedlichen, wertschätzenden und liebevollen Vorstellung des Zusammenlebens und geniesse diese Illusion bis zum nächsten Wutausbruch.

Zu den ästhetischen Regeln:
Ernster wird es, wenn es sich tatsächlich um normative Regeln handelt, deren Restriktionskraft mit Sanktionsandrohung unterfüttert wird.

So ist es. Find ich auch. :dr01:
(...) ohne Macht ist eine Sanktionsandrohung nicht glaubhaft. Wer hat also diese Macht? Wer ist die sanktionierende Autorität?

Wie in einem Panoptikum übernehmen wir selbst schliesslich die Autorität und verinnerlichen sie, gegen Teile von uns. Tag für Tag. Wir alle haben eine lange Geschichte dazu fürchte ich.
Das ist die Selbstlimitierung (diese Gedanken hab ich im Workshop auf der anderen Seite etwas ausgeführt). Das ist der Punkt, der psychologisierende Moment. Für mich. (Off Topic: Oft entstehen doch seelische Erkrankungen so. Nicht nur ich habe Leute daran sterben sehen.)

Es kann wunderbar, erfüllend und alles sein, auf der Tonika zu enden. Wir alle haben das tief in uns drin. Ist doch kein Problem, wie du schon sagst - seh ich auch so.
Es kann ebenso wunderbar sein, die Spannung innerhalb der Funktionsharmonik auf die Spitze zu treiben und diese praktisch ad absurdum zu führen (Wobei man allerdings immer noch auf die Funktionsharmonik bezogen ist) - Wagner bis Reger oder teilweise im Jazz etc.

Es kann auch wunderbar sein, Funktionsharmonik grundsätzlich von Anfang an zu verlassen und z.B. die Dissonanz zu erforschen und aus ihr ästhetischen Genuss zu ziehen oder eigene Verhältnisse von Spannung und Entspannung zu schaffen (z.B. Skrijabin)

Es ist sogar alles gleichberechtigt möglich. Hab ich zumindest die Erfahrung gemacht.


Ein guter Produzent hört das Potential und hilft dabei, dieses liebevoll zu Tage zu fördern.

Wir sehen der kommerzialisierten Popkultur gerade beim Sterben zu. Sie wird nicht ganz weg gehen und wahrscheinlich wird sich bald "wieder was im Osten rühren" ;)

Im Moment ist die Musik wahrscheinlich live am sichersten . . . .


und will man das?

Tom

Re: der größte Neuerer des 20. Jh.

Beitragvon Tom » Di 3. Mai 2011, 14:09

buttrock hat geschrieben:Meinst du der das weiss das nicht :dontknow: :mrgreen:

Ob er sich so gut kennt weiß ich nicht. :tongue:

Tom

Re: der größte Neuerer des 20. Jh.

Beitragvon Tom » Di 3. Mai 2011, 14:11

buttrock hat geschrieben:und will man das?


Mensch. :-)
Du weißt wie ich das mein. :roll: :kiss:
Mia soima laif schbuin, dan kennans uns am Arsch legga.

buttrock

Re: der größte Neuerer des 20. Jh.

Beitragvon buttrock » Di 3. Mai 2011, 15:35

;-) :cuddle:

zu meiner Schande hab ich dich wirklich erst falsch verstande. Distinktionswahn ist eine schwere Krankheit.

Nicknack

Re: der größte Neuerer des 20. Jh.

Beitragvon Nicknack » Di 3. Mai 2011, 17:11

Tom hat geschrieben:...
Im Moment ist die Musik wahrscheinlich live am sichersten . . . .


Kommt drauf an, welche Bedrohung man für die Musik als die ärgste annimmt.

Tom

Re: der größte Neuerer des 20. Jh.

Beitragvon Tom » Di 3. Mai 2011, 17:21

Also on Topic nochmal ein Senf:
Für mich waren Neuerer der elektrischen Gitarre, deren Neuerung ich selbst als solche erlebt habe und nicht nachplappere:
Brian May: Phrasing, Sound, Orchestrierung
Eddie Van Halen: Geschwindigkeit, Blueswurzeln, Phrasing, Sound, spitzbübische Lockerheit
Andy Summers: Sounds, Voicings
John Scofield: er brachte den angezerrten Blues in den Jazz, eben auch in den Akkorden; Phrasing, Tonwahl, Eastcoast King
Robben Ford: Phrasing, Sound, Westcoast Queen
Jeff Beck: mit den Fingern fleischlich-vokale Qualität aus der Combi Strat+Amp, Phrasing
Allan Holdsworth: Tonwahl, Technik, Akkorde, Sound durch Legato: einzigartig
John McLaughlin: Radiergummi Technik, Geschwindigkeit, Spielfreude
Bill Frisell: Vision, Sounds, Phrasing, Überblick
Pat Metheny: der Turnschuh im Jazz, Wärme, Musikalität

tortitch

Re: der größte Neuerer des 20. Jh.

Beitragvon tortitch » Di 3. Mai 2011, 17:36

Tom hat geschrieben:Also on Topic nochmal ein Senf:
Für mich waren Neuerer der elektrischen Gitarre, deren Neuerung ich selbst als solche erlebt habe und nicht nachplappere:
Brian May: Phrasing, Sound, Orchestrierung
Eddie Van Halen: Geschwindigkeit, Blueswurzeln, Phrasing, Sound, spitzbübische Lockerheit
Andy Summers: Sounds, Voicings
John Scofield: er brachte den angezerrten Blues in den Jazz, eben auch in den Akkorden; Phrasing, Tonwahl, Eastcoast King
Robben Ford: Phrasing, Sound, Westcoast Queen
Jeff Beck: mit den Fingern fleischlich-vokale Qualität aus der Combi Strat+Amp, Phrasing
Allan Holdsworth: Tonwahl, Technik, Akkorde, Sound durch Legato: einzigartig
John McLaughlin: Radiergummi Technik, Geschwindigkeit, Spielfreude
Bill Frisell: Vision, Sounds, Phrasing, Überblick
Pat Metheny: der Turnschuh im Jazz, Wärme, Musikalität


Im Prinzip könnte ich dir tatsächlich bei ALLEN zustimmen, aber ich möchte es ja zuspitzen und daher lasse ich von der Aufzählung schließlich nur einen stehen:

three

two

and number one:


May

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Matt 66
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Re: der größte Neuerer des 20. Jh.

Beitragvon Matt 66 » Di 3. Mai 2011, 19:51

Eigentlich ein geiles Forum, in dem ich hier gelandet bin...

:up: :up: :up:

Nicknack

Re: der größte Neuerer des 20. Jh.

Beitragvon Nicknack » Di 3. Mai 2011, 20:47

tortitch hat geschrieben:Möchte man für sich einen Distinktionsgewinn herausschlagen (seine Erlesenheit demonstrieren), dann hat es keinen Sinn, sich dem "Massengeschmack" anzuschließen. Distinktion (im Sinne von nach oben heraushebender Unterscheidung) verspricht nur das, was sich abseits vom "Mainstream" bewegt.



Im Prinzip könnte ich dir tatsächlich bei ALLEN zustimmen, aber ich möchte es ja zuspitzen und daher lasse ich von der Aufzählung schließlich nur einen stehen: ...


Man kann soziale Distinktion übrigens auch über Zuspitzung versuchen.
:clap:


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